Archiv - Atomenergie - Störfälle

Atomanlagen Frankreich

Die Atomanlage in Tricastin
Tricastin nahe Pierrelatte im Rhône-Tal ist eine der größten Atomanlagen Frankreichs. Neben vier Druckwasserreaktoren des Energieunternehmens EDF mit einer Leistung von je 900 Megawatt betreibt der Atomkonzern Areva auf dem 600 Hektar großen Gelände eine Fabrik zur Anreicherung von Kernbrennstäben (Eurodif), die einen Großteil der Stromproduktion Tricastins verbraucht.

Uran-Austritt in Frankreich: Firma tat und tut zu wenig
11.07.2008 | 12:02 | (DiePresse.com)

Die Maßnahmen der Firma in Tricastin sind unbefriedigend, sagt die Atomaufsicht. Schon in der Vergangenheit gab es Verwarnungen. Die Behörde hat das alte Leitungsnetz kritisiert

Nachdem am Montagabend aus einer Atomanlage im südfranzösischen Tricastin Tausende Liter Uran-haltiges Wasser ausgetreten sind, hat die Atomaufsicht ASN der verantwortlichen Firma Socatri weitere Mängel vorgeworfen. Die Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Uranverseuchungen seien unbefriedigend, erklärte die ASN am Freitag nach einem Kontrollbesuch. Bei dem Unfall seien Verhaltensregeln nicht beachtet worden. Außerdem seien die Behörden nicht schnell genug informiert worden.

Socatri hatte den Unfall Dienstag früh gemeldet und erst Dienstagmittag Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung empfohlen. Ein Kessel zur Uranbehandlung war übergelaufen und aus dem rissigen Auffangbecken war Flüssigkeit mit 224 Kilogramm Uran ausgelaufen, von denen 74 Kilogramm in die Gewässer gelangten. Bereits 2007 hatte die ASN Socatri wegen überhöhter Strahlung und Lecks in der Kanalisation zur Ordnung gerufen. Das Leitungsnetz des Unternehmens, das verstrahlte Materialien reinigt, sei veraltet, weshalb "wiederholt" Flüssigkeiten ausgetreten seien. Die ASN verlangte deshalb, das Leitungsnetz so schnell wie möglich zu ersetzen und die Überwachung zu verstärken.

2007: Radioaktives C-14 ausgetreten.

Beim Austreten des radioaktiven Isotops Kohlenstoff-14 (c-14) habe die Tochter des Atomkonzerns Areva den Grenzwert im vergangenen Jahr um fünf Prozent überschritten, hieß es in dem Bericht weiter. Bei chemischen Stoffen hätten die flüssigen Abwässer der Reinigungsanlage regelmäßig die Grenzwerte überschritten. Die ASN habe der Socatri deshalb empfohlen, dieses Jahr eine neue Abwasserreinigungsanlage in Betrieb zu nehmen.

Die Socatri-Konzernmutter Areva teilte mit, der Unglückstank werde stillgelegt. Areva investiere 13 Millionen Euro in eine neue Anlage zur Uranbehandlung. Socatri lud interessierte Vereinigungen ein, an der Auswertung der Uranproben der Gewässer teilzunehmen.

Uran fließt aus Atomanlage: Frankreich rätselt über Folgen
09.07.2008 | 16:07 | (DiePresse.com)

Baden und Fischen ist in der nähe der Anlage in Tricastin verboten, nachdem 30.000 Liter uranhaltige Flüssigkeit ausgetreten ist. Über die Folgen des Unfalls streiten sich die Experten.

Das Ausmaß eines Uran-Zwischenfalls in der südfranzösischen Atomanlage Tricastin vom Dienstag ist nach Angaben des Betreiberkonzerns Areva geringer als zunächst befürchtet. Ein Teil der ausgetretenen uranhaltigen Flüssigkeit sei von einem Sicherheitssystem aufgefangen worden, teilte das Unternehmen am Mittwoch mit. Damit seien lediglich 18.000 Liter - und nicht wie zunächst befürchtet 30.000 Liter - der Flüssigkeit in das Erdreich und einen nahe gelegenen Fluss gelangt, sagte ein Sprecher der Areva-Tochter Socatri.

In Frankreich gab es am Mittwoch eine heftige Diskussion über den Zwischenfall, der offenbar lokal eng begrenzt war. Während die französische Strahlenschutzbehörde ASN abwiegelte, warnte die französische Kommission für Unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität (CRIIRAD).

Fischen und Baden verboten

Die Präfektur von Vaucluse ergänzte, das Risiko für die Bevölkerung sei gering. Denn das ausgetretene Uran sei nur im Mikrogramm-Bereich in dem Fluss nachzuweisen. Der Uran-Gehalt sei zwar an der Wasser-Oberfläche deutlich über der Norm, aber seit dem Unfall erheblich zurückgegangen. Auch die Tests an Seen in der Umgebung hätten keine Uran-Kontamination ergeben. Daher bestehe auch für die 100 in Sicherheit gebrachten Badegäste keine Gefahr. Fischen, Wassersport und die Bewässerung von Feldern mit Wasser aus der betroffenen Region bleibe aber als Vorsichtsmaßnahme bis auf weiteres verboten.

Der Unfall hatte sich Dienstag früh um 6.30 Uhr in einem Werk zur Behandlung von Atomabfällen bei Avignon ereignet. Die Behörden hatten aber bis zum Abend mit der Bekanntgabe gewartet. Aus einem undichten Tank war radioaktive Flüssigkeit mit 360 Kilogramm Uran ausgetreten. Ein Teil gelangte in die kleinen Flüsse Gaffiere und Lauzon, hieß es in der Mitteilung der französischen Atomschutzbehörde.

Verspätete Information der Bevölkerung

Der Vorfall platzte in Frankreich mitten in die neuentflammte Debatte um den Atomausstieg in Deutschland. Kritik gab es, weil die ersten Informationen über das Ereignis erst mit Stunden Verspätung veröffentlicht wurden. Der Atomkonzern Areva erklärte, der Austritt der radioaktiven Flüssigkeit habe auch keinerlei Folgen für das Personal und die Anrainer gehabt. Man habe der französischen Strahlenschutzbehörde ASN empfohlen, den Zwischenfall als Stufe 1 auf einer siebenstufigen Skala zu klassifizieren. Das wäre laut der internationalen INES-Skala von 0 bis 7 bloß eine Anomalie. Auch im Umweltministerium in Wien ging man von einem lokal begrenzten Ereignis aus.

Allerdings, laut manchen französischen Experten wurde die Umwelt stärker mit Strahlung belastet als von den französischen Behörden zunächst eingeräumt. Man könne davon ausgehen, dass die Strahlung 100 Mal höher sei als die für das Gesamtjahr zulässige Obergrenze, erklärte die französische Kommission für Unabhängige Forschung und Information über Radioaktivität (CRIIRAD) am Mittwoch.

Französische Bevölkerung zweifelt an Informationen

Die französischen Bürger beginnen an den Informationen über den Störfall in Tricastin zu zweifeln, nachdem sich die Atomgesellschaft und die Regierung betont sorglos geben

In Frankreich hat das Wort „Atomkonsens“ nichts mit dem Ausstieg aus der Kernenergie zu tun. Im Gegenteil: 80 Prozent des Stroms im Nachbarland werden in Atomkraftwerken produziert. Noch vor einigen Wochen brüstete sich Staatspräsident Nicolas Sarkozy, die französische Atomtechnik sei „eine der sichersten der Welt“.

Inzwischen hat der unbekümmerte Umgang mit dem Atomunfall von Tricastin das Vertrauen der Bevölkerung in den staatlichen Nuklearkonzern Areva erschüttert. Und am Freitag folgte gleich der nächste Uran-Zwischenfall – wegen einer Leitung, deren schlechter Zustand schon seit Jahren bekannt war.
Als am Abend des 7. Juli in Tricastin bei einer Areva-Tochter sechs Kubikmeter Flüssigkeit mit 74 Kilo Uran ausliefen, war offenbar niemand sonderlich besorgt. Eine ganze Nacht verstrich, bis das Unternehmen sich veranlasst sah, die Behörden zu informieren. Umweltminister Jean-Louis Borloo meldete sich zwei Tage später zu Wort und erklärte, die ersten Messungen seien „beruhigend“. Doch allen Versicherungen zum Trotz sanken die Uranwerte im Grundwasser nicht, sondern zeigten von Tag zu Tag starke Schwankungen. Das Institut für Strahlenschutz und Atomsicherheit (IRSN) schloss aus, dass dies Folge der jüngsten Verschmutzung sein könnte. Und deshalb keimt um Tricastin die Vermutung, dass das Uran schon viel früher in die Umwelt gelangt sein könnte. Unter Verdacht steht unter anderem ein mit Gras bewachsener Hügel am Rande von der zweitgrößten Atomanlage Frankreichs: Unter ihm lagern 15.000 Kubikmeter atomare und chemische Abfälle des französischen Militärs aus den 70er Jahren.
Um Tricastin herum haben viele Menschen nun erstmals Angst. 20 Jahre lang habe sie für sich und ihre Familie Wasser aus einem Brunnen vor ihrem Haus benutzt, sagt Sylvie Eymard, die außerhalb der Stadt Bollène lebt. Jetzt ist der Brunnen gesperrt. „Wir machen uns Sorgen um die Kinder“, sagt sie. Zwar hätten Untersuchungen auf eine Uranvergiftung nichts ergeben, „aber wir wissen nicht, was die Zukunft bringt und was aus unserer Gesundheit wird“.

Yves Beck, stellvertretender Bürgermeister von Bollène, hält sich nicht mehr zurück. „Wir werden nicht wie Bürger behandelt“, schimpft er. Der Umgang mit dem Unfall durch die Behörden sei „unmöglich“. Bis Donnerstag hätten weder Areva noch der Staat nachgefragt, ob die Stadt Hilfe brauche.
Tatsächlich wurde der Donnerstag zu einem Wendepunkt in der Affäre. Umweltminister Borloo kündigte plötzlich an, er wolle nun das Grundwasser um alle Atomkraftwerke genauer untersuchen lassen. Und Areva feuerte den Leiter des Unglücksbetriebs. „Uns tut leid, was passiert ist“, meldete sich Areva-Chefin Anne Lauvergeon zehn Tage nach dem Unglück erstmals zu Wort. Auch wenn es keine Gesundheitsgefahr gebe, habe der Vorfall „sehr viel Besorgnis ausgelöst“. Am Freitag reiste Lauvergeon erstmals vor Ort, um sich ein Bild von der Lage zu machen.
Doch da hatte sie schon die nächste Hiobsbotschaft ereilt. In einer Areva-Brennstäbefabrik nur eine Autostunde von Tricastin entfernt trat bei einem Leitungsbruch erneut radioaktive Flüssigkeit aus. Laut der Atomaufsicht ASN geht es in Romans-sur-Isère nur um einige hundert Gramm Uran, die nicht in die Umwelt gelangt seien. Doch ein Satz in der Mitteilung der Atombehörde ließ aufhorchen: Demnach haben die ASN-Inspektoren „festgestellt, dass der Bruch in der unterirdischen Leitung laut Betreiber mehrere Jahre zurückliegt“. Dass dagegen offenbar nichts unternommen wurde, könnte zu neuen Rissen in Frankreichs „Atomkonsens“ führen.