Archiv - Atomenergie - Störfälle

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

Der Ablauf der Ereignisse

In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 sollte Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl für Routineuntersuchungen heruntergefahren werden. Man wollte die Situation nutzen, um gleichzeitig noch ein Experiment durchzuführen. Dies wurde für die Sicherheit der Anlage als wichtig angesehen. Die Rotationsenergie einer Turbine sollte nach Absperren der Frischdampfzuführung ausgenützt werden. Sie sollte für kurze Zeit noch Strom für die Kühlmittelpumpen erzeugen, bis die Notstromdiesel auf voller Leistung waren. Dieses Experiment sollte die Beherrschbarkeit von Netzausfällen demonstrieren. Um das Experiment eventuell noch einmal wiederholen zu können wurden vor Beginn des Tests mehrere Schnellabschaltsignale vorschriftswidrig im Vorhinein deaktiviert.

* * Das Abfahren des Blockes wurde in den frühen Morgenstunden des 25. April begonnen. Die thermische Reaktorleistung wurde auf zirka 1.600 Megawatt (MW) halbiert. Der Lastenverteiler in Kiew hatte aber weiteren Strombedarf angemeldet. So musste der Reaktor noch am Netz bleiben.

* * 25.4.1986, 21 Uhr: Die Leistung konnte auf 20 bis 30 Prozent reduziert werden. Aufgrund der einsetzenden Xenonvergiftung musste stark nachgeregelt werden. Das bei der Kernspaltung entstandene radioaktive Xenon-Isotop ist ein Zerfallsprodukt aus der Kernspaltung, das Neutronen absorbiert. Die Reaktorleistung war nicht einfach zu stabilisieren: Der Reaktor wurde durch den vorangegangenen langen Betrieb stark mit Spaltprodukten angereichert. Der Brennstoffgehalt war hinunter gebrannt.

* * 26.4.1986, 0 Uhr: Inzwischen war es gelungen, die Reaktorleistung bei zirka 500 MW thermisch (MWth) zu stabilisieren. Der Versuch sollte vorbereitet werden, obwohl dafür ein Leistungsbereich von 700 bis 1000 MWth vorgesehen war. Die Reaktorleistung war aber nicht einfach wieder anzuheben, da bereits 30 Operational Regulatory Margin (ORM) ausgefahren waren. Diese Maßeinheit bezeichnet, wie viele Anteile von den insgesamt 211 Regelstäben sich außerhalb des Reaktorkerns befinden. Sie würden im Notfall nicht zu Neutronenabsorption und der Unterbrechung der Kettenreaktion zur Verfügung stehen. Als Limit wird für den RBMK-1000 eine ORM von 26 angegeben. Das bedeutet, mehr als umgerechnet 26 Regelstäbe dürfen nicht aus dem Reaktor herausgezogen werden. Damit wären die Sicherheitsvorschriften gewahrt. Anstatt den Reaktor abzufahren, wurde dieser in einem zu niedrigen Leistungsniveau weiter betrieben. Die Leistung konnte aber wegen der Neutronen absorbierenden Spaltprodukte nicht ohne Regelverletzung angehoben werden.

* * Durch einen Regelfehler bei der Umstellung der Leistungsregelung auf Versuchsbedingungen fiel die Reaktorleistung praktisch auf Null. Sie konnte nur durch ein regelwidriges weiteres Herausziehen von Absorberstäben erhöht werden.

* * Die Leistung konnte etwas später auf ungenügende sieben Prozent der Nennleistung gehalten werden. In diesem niedrigen Leistungsbereich besitzt der Reaktor unangenehme Steuerungseigenschaften. Er ist für Dauerbetrieb in diesem Bereich nicht konstruiert.

* * 26.4.1986, 0.43 Uhr: Ein wichtiges automatisches Regelsignal wurde überbrückt. Es soll den Reaktor im Notfall abschalten. Wiederum wurde ein sicherheitsbedeutsamer Regelverstoß vorgenommen, um den Versuch wiederholen zu können.

Unmittelbar vor Einleitung des Versuches war der Reaktor in einem sehr instabilen Betriebszustand. Die Kühlmittel-Durchströmgeschwindigkeit (Kühlmitteldurchsatz) durch den Reaktor war zu hoch. Die Kerneintrittstemperatur des Kühlwassers war niedrig und der Dampfanteil im Reaktor zu gering. Die Tatsache der Xenonvergiftung, gekoppelt mit dem räumlichen Leistungsprofil und dem zeitlichen Verhalten stimmten nicht überein. Nachrechnungen ergaben, dass die ORM nur mehr knapp acht Regelstäbe betrug. Dies ist weit unter der Betriebsanweisung.

* * 26.4.1986, 1.23 Uhr: Das Experiment wurde mit dem Schließen des Turbinenschiebers eingeleitet. Durch das Auslaufen des Generators bekamen die vier angeschlossenen Hauptkühlmittelpumpen weniger Strom. Sie liefen ebenfalls langsam aus. Dadurch verringerte sich der Wasserdurchsatz im Reaktorkern und die Temperatur stieg an. Damit bildete sich auch mehr Dampf in der aktiven Zone.

Eine unangenehme Eigenschaft des RBMK-Reaktors kam nun zum Tragen: der positive Dampfblasenkoeffizient. Eine Erhöhung des Dampfgehalts (unter anderem auch aufgrund einer Temperaturerhöhung) führt bei diesem Reaktortyp zu einer Verstärkung der Kettenreaktion. Weniger Neutronen werden absorbiert. In seltenen Fällen kann sich das Phänomen zu einem positiv rückgekoppelten Regelkreis entwickeln statt sich einzubremsen: Temperaturerhöhung führt zu mehr Dampfblasen. Dies führt zur besseren Moderation der Neutronen und höherer Spaltrate. Die Temperatur wird weiter erhöht und der Kreislauf beginnt von neuem.
Die Betriebsmannschaft bemerkte die ungünstige Entwicklung. Sie leitete eine Schnellabschaltung ein. Die Leistung stieg trotzdem erst langsam auf 15 Prozent an. Wegen verzögerter Dampfbildung in den Kanälen der aktiven Zone schnellte sie dann in Sekundenbruchteilen auf das tausendfache der Nennleistung. Mehrere dumpfe Schläge waren aus der Gegend des Reaktorsaals zu hören. Der plötzliche Reaktivitätsanstieg mündete in eine unkontrollierte Kettenreaktion. Das Kühlmittel verdampfte. Durch den enormen und schlagartigen Druckanstieg in den Kanälen barsten diese.

Eine gewaltige Explosion erschütterte und verwüstete den ganzen Gebäudekomplex. Die obere Kernabdeckplatte mit einem Gewicht von 3.000 Tonnen wurde von den Kanälen abgesprengt. Sie fiel schräg wieder zurück auf den aufgerissenen Reaktortorso.

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