Gegen die hohen Ölpreise: Atomstrom?

Die Flucht aus dem Öl hat begonnen

In Europa steht die umstrittene Atomstrom-Erzeugung vor einer Renaissance. Die USA wollen mit Bio-Treibstoffen von unsicheren Nahost-Öllieferanten unabhängig werden.

Die politische Krise um die Öl-Großmacht Iran, der "Gas-Streit" zwischen Russland und der Ukraine und der Anstieg der Rohölpreise auf Werte, die inflationsbereinigt fast jenen der Ölkrise von 1980 entsprechen (siehe Grafik) haben in Europa und den USA eine breite "Los vom Öl"-Bewegung ausgelöst. Deren wichtigste Ausprägung: Die in den vergangenen Jahren in vielen europäischen Ländern eher verpönte Kernkraft feiert eine Renaissance.

Jüngster Schritt: In dieser Woche hat das niederländische Wirtschaftsministerium entgegen der bisherigen Linie angekündigt, dass in den nächsten Jahren zum bestehenden Atommeiler bis zu drei weitere Kernkraftwerke dazukommen könnten. Ähnliche Pläne haben unter anderem Polen, Lettland und Frankreich bekannt gegeben. In Großbritannien, wo in den vergangenen Jahren 22 Atommeiler geschlossen worden waren, hat Premier Blair angedeutet, dass der Bau neuer Kernkraftwerke "notwendig" sein könnte. In Finnland und Rumänien wird gebaut.

"Ich stelle einen Wandel in der Meinung über Kernkraft fest", sagte dazu der Chef des schwedischen Energieriesen Vattenfall, Lars Josefsson, in einem Interview. Schweden hat 1980 nach einer Volksabstimmung beschlossen, seine Atomkraftwerke bis 2010 still zu legen. Die Regierung hält offiziell noch am Ausstieg fest, will aber viel Geld in die Modernisierung der Anlagen stecken. Und: 63 Prozent der Schweden haben sich in einer aktuellen Umfrage als Befürworter der Kernkraft deklariert. Ähnlich läuft die Diskussion in Deutschland, wo der Ausstieg bis 2021 beschlossene Sache ist. Im Zuge der Erdgaskrise fordern CDU-Politiker die Verlängerung der Kraftwerks-Laufzeiten.

Die EU-Kommission glaubt nicht an eine nachhaltige Atomstrom-Renaissance: Laut Energiekommissar Piebalgs dauern die Vorbereitungsarbeiten für neue AKW - auch wegen der Widerstände in der Bevölkerung - zu lange. Vielversprechender seien Alternativenergien wie die stark geförderte Energieerzeugung aus Biomasse, Wind- oder Sonnenkraft. Tatsächlich läuft etwa die EU-Solarbranche an ihren Kapazitätsgrenzen, die Kurse von Solaraktien sind in jüngster Zeit explodiert.

Biotreibstoffe würden ebenfalls eine Rolle spielen, wenngleich sie maximal ein Fünftel des Treibstoffbedarfs substituieren könnten - und die Rohstoffe dafür teilweise importiert werden müssten.

Die USA wollen ihre Ölabhängigkeit unterdessen schwerpunktmäßig mit dem Einsatz von Biosprit verringern. Präsident George W. Bush hat bei seiner jüngsten Rede an die Nation die amerikanische "Sucht nach Öl" bekrittelt und angekündigt, die Abhängigkeit von Öl aus den Krisengebieten des Mittleren Ostens durch Einsatz von Biosprit um drei Viertel senken zu wollen. Dazu sollen 900 Biospritanlagen gebaut werden.

Die US-Abhängigkeit von Import-Rohöl aus dem Mittleren Osten ist deutlich geringer als jene Europas: Nur knapp ein Fünftel des US-Rohölbedarfs kommt aus diesem Raum. Allerdings: Die Amerikaner haben schon mehrmals die "Energiewende" weg vom Öl versprochen - und dann doch nicht geschafft. Auch diesmal zeigt sich der Markt skeptisch: Saudiarabien hat am Mittwoch angekündigt, seine Pläne für eine Ausweitung der Ölproduktion von 9,4 auf 12,5 Millionen Barrel (je 159 Liter) am Tag - trotz der Bush-Aussagen - durchzuziehen.

Der Kurswechsel
Hohe Ölpreise und die große Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas haben nun zu erstaunlichen Kehrtwendungen in der Energiepolitik geführt: In Europa kommt plötzlich wieder ein Ausbau der Kernkraft ins Gespräch. Die USA wollen ihre Abhängigkeit von Nahost-Öl mit Biosprit bekämpfen.

VON JOSEF URSCHITZ (Die Presse) 16.02.2006