Atommüll im Taschenformat
Jungle World Nr. 51, 18. Dezember 2008, Author: Moritz Schröder: Radioaktiver Schrott ist überall
Ein Angestellter eines französischen Atomkraftwerks bekam im Jahr 2000 einen heftigen Schrecken. Beim Gang durch einen Detektor löste er den Strahlenalarm aus. Dass recht bald ein Leck im Reaktor als Ursache für den Alarm ausgeschlossen werden konnte, wirkte nicht gerade beruhigend auf ihn. Es sollte sich herausstellen, dass die Armbanduhr des Arbeiters radioaktiv verseucht war. Auf dem Band der Uhr fanden sich Spuren des radioaktiven Isotops Kobalt-60. In Hong Kong, wo die Uhr hergestellt worden war, wurden jedoch keine Hinweise darauf entdeckt, wie die Radioaktivität in die Uhr gekommen war. Fündig wurden die Ermittler in einer kleinen chinesischen Stahlfabrik. Dort war ein medizinisches Bestrahlungsgerät aus einem Krankenhaus eingeschmolzen worden, und aus dem gewonnenen Rohstahl war schließlich die Uhr des französischen Arbeiters gefertigt worden.
Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) kann viele derlei Geschichten aufzählen.
Es ist offenbar keine Seltenheit, dass radioaktives Material in den weltweiten Handel mit Metall gelangt, dabei handelt es sich oft um nachlässig weggeworfene radioaktive Bauteile aus medizinischen Geräten, Messinstrumenten oder wissenschaftlichen Experimenten. Wie schädlich die Teile sind, sieht man ihnen nicht an. Auch zwei türkische Brüder dürften nicht an radioaktiven Müll gedacht haben, als sie im Jahr 1998 zwei Metallcontainer auseinanderbauten, bis ihnen unerwartet übel wurde. Kurze Zeit später mussten 18 Personen teilweise über einen Monat stationär behandelt werden, weil sie wie die beiden Brüder ehemalige Geräte aus der Strahlenmedizin bearbeitet hatten, ohne es zu wissen. Die Geräte sollten eigentlich in die USA geschickt werden, kamen dort aber nie an. Bis heute fehlt eines dieser Geräte; womöglich wurde auch das inzwischen zu Recycling-Stahl eingeschmolzen.
Ein ähnlicher Vorfall hat drei Menschen Anfang 2000 in Thailand sogar das Leben gekostet. Auch sie waren im Schrotthandel beschäftigt und waren mit verstrahlten medizinischen Geräten in Berührung gekommen.
Häufig wird strahlender Müll mittlerweile weiterverkauft, in vielen Fällen auch einfach zu neuem Stahl verarbeitet, denn das Material ist äußerst begehrt. Im vergangenen Jahr ist die weltweite Stahlproduktion dem Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung zufolge um 7,5 Prozent gestiegen. Zwar mindert die internationale Wirtschaftskrise derzeit das Wachstum, aber der Bedarf ist nach wie vor sehr hoch.
Mehr als ein Drittel des Stahls wird inzwischen in China hergestellt. Auch in Indien, Brasilien und der Türkei wurde im vergangenen Jahr deutlich mehr als früher produziert. Doch gerade diese Länder sind für ihre laschen Kontrollen bekannt. In den Stahlwerken wird der angelieferte Schrott meist nicht auf radioaktive Strahlung untersucht. Die steigende Nachfrage können die Hersteller längst nicht mehr mit der herkömmlichen Art der Stahlproduktion bedienen. Immer mehr alte Geräte werden verwertet, um den Weltmarkt zu bedienen. Aus welchen Quellen das Metall ursprünglich stammt, ist dann oft zweitrangig. Die niedrigen Preise sind im Zweifelsfall das bessere Argument.
Auch deutsche Hersteller suchen nach neuen Wegen, um verstrahltes Material für die Stahlindustrie verwertbar zu machen.
Das Würzburger Unternehmen Babcock Noell hat in den vergangenen Monaten beim norditalienischen Atomkraftwerk Caorso eine neuartige Anlage aufgebaut, in der die Teile des stillgelegten Meilers von der radioaktiven Strahlung »gereinigt« werden sollen. Bis Ende dieses Jahres soll die Anlage laufen. Die abmontierten radioaktiv verseuchten Elemente werden in Phosphorsäure getaucht, wodurch sich die oberen, verstrahlten Schichten ablösen sollen. Danach wird der Stahl mit einem Hochdruckreiniger behandelt und kann später in einem Stahlwerk eingeschmolzen werden. Aus radioaktiv belasteten Teilen soll so schnöder Recyclingstahl werden. Ein rot-braunes Pulver bleibt als »endlagerfähiges« radioaktives Material übrig. Nach und nach sollen auf diese Weise in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr große Teile des Atomkraftwerks verwertet werden.
Mit radioaktiv verseuchtem Material wird in vielen Ländern allerdings weniger zimperlich hantiert. Noch im Mai hat der ukrainische Geheimdienst nach eigenen Angaben ein kriminelles Netzwerk hochgenommen, das verstrahlte Teile aus dem Gebiet rund um den ehemaligen Atomreaktor von Tschernobyl auf dem Schwarzmarkt verkaufte, darunter beispielsweise Stahlrohre von einer Mülldeponie mit radioaktiv verseuchtem Abfall, deren Strahlung um das 20- bis 30fache über den Normwerten lag.
Auf solchen und ähnlichen Wegen landet recycelter, radioaktiver Müll auch auf dem europäischen Markt: verstrahlte Heizungsrohre in Schweden, verseuchte Handtaschen in den Niederlanden, radioaktive Armbanduhren in Deutschland. Der vorläufig letzte größere Fund wurde Anfang November in Deutschland und Frankreich gemacht. Diesmal waren es Bedienknöpfe in 600 Aufzügen, die mit Kobalt-60 belastet waren. Das Metall stammte aus indischen Stahlwerken. Zwar ging wegen der geringen Strahlendosis von den inzwischen entfernten Teilen keine Gefahr aus, trotzdem ist es bedenklich, dass solche Fälle immer häufiger auftreten.
Der Bedarf nach Recyclingstahl wächst
behauptet Rolf Willeke, Geschäftsführer des Stahl-Recyclingverbands BDSV. Rund 45 Prozent des in Deutschland verwendeten Stahls seien bereits wiederverwertet, in ganz Europa seien es sogar 56 Prozent, mit steigender Tendenz. Willeke erklärt, dass die Vorteile des Recyclingstahls darin lägen, dass im Vergleich zur Herstellung von einer Tonne Stahl beim Wiedereinschmelzen 650 Kilogramm Kohle, 1,5 Tonnen Eisenerz und eine Tonne klimaschädliches Kohlendioxid eingespart werden.
In den vergangenen Jahren wurde daher auch in Deutschland immer mehr Material zur Zweitverwertung importiert. Die eingeführte Menge an Walzstahl ist zwischen 2003 und 2007 um fast 10 000 auf rund 24 000 Tonnen gestiegen, davon kamen knapp 3 500 Tonnen aus Asien, Osteuropa und Russland. Rolf Willeke gesteht: »Die Kontrollen in Ländern wie Indien, China, Russland oder der Ukraine machen uns Sorgen.«
Es mangelt also an Transparenz im weltweiten Stahlhandel. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass verstrahlte Ware auf den Markt kommt. Trotzdem sagt Willeke: »In Deutschland haben wir das Problem im Griff.« In den hiesigen Stahlwerken gebe es sogar »doppelte Kontrollen«, um zu vermeiden, dass kontaminiertes Material verarbeitet wird. Das verhindert allerdings nicht, dass trotzdem immer wieder radioaktiv verseuchte Waren auftauchen. »Ein paar Mal jährlich kommt es vor, dass Stahlwerke Lieferungen zurückweisen, weil sie kontaminiert sind«, sagt Beate Brüninghaus vom Stahlinstitut VDEh. Die Teile würden in solchen Fällen direkt an den Absender zurückgeschickt.
Aber gerade strahlende Fertigwaren wie Schmuck erreichen immer wieder deutsche Supermärkte. Meistens gelangen sie über große Handelshäfen wie Rotterdam und Hamburg ins Land. Während in den Niederlanden jeder Container aus Angst vor Terroranschlägen durchleuchtet wird, machen die Zuständigen in Deutschland nur Stichproben. »In den Häfen sind die Kontrollen meist nicht so gründlich wie in den Stahlwerken«, sagt Beate Brüninghaus.
So gelangte 2006 waffenfähiges Material aus Russland über den Ostsee-Hafen Wismar nach Deutschland, versteckt in 6 000 Tonnen Schrott. Wie das ARD-Magazin »Plusminus« Mitte August informierte, wurden die gefährlichen Bestandteile erst kurz vor dem Einschmelzen entdeckt. Auch an den Flughäfen und Außengrenzen fehlen dem Bericht zufolge wirkungsvolle Kontrollen.
Zwar erreicht der bisher gefundene, recycelte, radioaktive Müll selten gesundheitsgefährdende Strahlungswerte, doch es sind ohnehin weniger die deutschen Konsumenten, die in Gefahr schweben. Das größere Gesundheitsproblem haben Arbeiter in Indien und China, die häufig direkt mit verstrahltem Material in Berührung kommen. Die Internationale Atomenergieorganisation fordert daher, dass die Besitzer der Stahlwerke ihre Arbeiter besser über die Gefahren der verstrahlten Teile aufklären und über Warnzeichen informieren sollen. Bislang dürften die Verantwortlichen das aber getrost ignorieren, denn der Handel mit Recyclingstahl ist derzeit ein außerordentlich gutes Geschäft.