Greenpeace warnt vor Tricksereien der Konzerne
Quelle: Spiegel online v 3.5.2011

Es herrscht große Zuversicht, dass Deutschland seine Atomkraftwerke rasch abschaltet - doch Greenpeace ist skeptisch.

Gegen Atomkraft

Bis zu 75 Milliarden Euro würde ein Turboausstieg die Konzerne kosten, rechnen die Umweltschützer vor. Bei einer solchen Summe sei mit erbittertem Geschacher zu rechnen.

Hamburg - In puncto Atomausstieg herrscht in der Politik scheinbar eine seltene Einigkeit: Zwar werden verschiedene Abschaltszenarien diskutiert. Im Grundsatz aber ist man sich offenbar parteiübergreifend einig: Raus aus der Kernenergie - und zwar schnell, lautet die Parole. Irgendwann zwischen 2017 und 2023 soll das letzte AKW vom Netz gehen.

Doch gibt es tatsächlich so viel Konsens? Greenpeace ist skeptisch. Schließlich geht es beim Ausstieg um viel Geld - das die Energiekonzerne sicher nicht kampflos aufgeben werden. "Die Manager und Lobbyisten der Atomkonzerne werden um jedes Jahr Laufzeit für ihre gefährlichen, aber profitablen Uralt-Meiler kämpfen", sagte Tobias Riedl, Atomenergieexperte bei Greenpeace. Der "Ausstiegseuphorie" sei nicht zu trauen.

Um wie viel Geld in den folgenden Monaten geschachert wird, hat die Umweltorganisation jetzt ausgerechnet: Bis zu 75 Milliarden Euro an Gewinnen würden den Atomkonzernen entgehen, wenn alle deutschen Meiler - wie von Greenpeace gefordert - bis 2015 abgeschaltet würden. Würde das letzte AKW 2020 vom Netz gehen, würden E.on, EnBW, RWE und Vattenfall 60 Milliarden Euro entgehen.

Berechnet hat Greenpeace jeweils die Differenz zu den Profiten, die die vier Konzerne erzielen würden wenn die Laufzeitverlängerung umgesetzt würde, die Schwarz-Gelb im vorigen Herbst beschlossen hatte.

Die Umweltorganisation schätzt, dass ein Atomkraftwerk eine Million Euro Gewinn am Tag abwirft. Offizielle Angaben der Betreiber dazu gibt es nicht. Anlässlich der Vorstellung der eigenen Berechnungen wies Greenpeace auch auf eine Studie des Öko-Instituts von 2009 hin, wonach die Gewinnspanne auch höher ausfallen könnte.

Dicke Luft bei der CDU

Auch in der Regierung sind die Positionen zum Ausstieg weit weniger einheitlich, als es bisweilen den Anschein hat. Vor allem die CDU ist zerstritten. So lässt das Bundesumweltministerium ein eigenes Ausstiegsszenario ausrechnen.

Öffentlich knüpft Norbert Röttgen den schnellen Ausstieg aus der Kernkraft an die Existenz seiner Partei. Motto: Die CDU kann als Volkspartei nur überleben, wenn sie konsequent den Weg aus der Atomkraft wählt. Eine Partei, die Volkspartei bleiben wolle, könne sich nicht "abkoppeln und abkapseln von relevanten Grundströmungen", warnte der Bundesumweltminister.

Doch wie umstritten die Kurskorrektur der Bundesregierung bei der Atomkraft in der CDU in Wahrheit ist, bekamen Röttgen, Kanzleramtschef Ronald Pofalla und Generalsekretär Hermann Gröhe bei dem "Energiepolitischen Fachgespräch" am Montagabend zu spüren. Während sich die Spitzen von CDU und CSU gedanklich nach der Atomkatastrophe von Fukushima längst von der bisherigen Brückentechnologie verabschiedet haben, kommt die eigene Partei bei der plötzlichen Wende offenbar nicht mit. "Wir machen uns große Sorgen über die Hektik der Bundesebene", kritisiert etwa Georg-Ludwig von Breitenbach, Kreisvorsitzender aus Leipzig. "Wir bekommen an der CDU-Basis diesen Schwenk zurzeit nicht vermittelt." Zuvor hatten schon die Landesverbände Sachsen, Hessen und Thüringen gemeinsam vor einem übereilten Ausstieg gewarnt. Kritik aus der EU-Kommission Auch in der Europäischen Union gerät die Regierung unter Druck. EU-Energiekommissar Günther Oettinger erwarte ein "klares Bekenntnis zum Ausbau der Netze", verlautete laut "Süddeutscher Zeitung" am Montag aus Kommissionskreisen.

Es reiche nicht aus zu sagen, man wolle keine Atomkraft mehr und dafür viel erneuerbare Energien. Berlin müsse erklären, aus welchen Quellen die Energie kommen und was sie kosten werde, schreibt das Blatt. Brüssel erwarte "verbindliche finanzielle Zusagen".

Oettinger legt in Budapest erstmals einen Entwurf für ein europäisches Energiekonzept 2050 vor. Darin schlägt er vor, grüne Energie nur dort zu fördern, wo es am billigsten ist.

Bahn-Stromnetz nur bedingt für Energietransporte geeignet

Ein großes Fragezeichen in der neuen Energiepolitik der Regierung ist der Ausbau der Stromnetze. Für den Ausbau der erneuerbaren Energien werden neue Leitungen benötigt. Mehrfach wurde die Idee geäußert, einen Teil der benötigten neuen Leitungen nicht erst zu bauen, sondern stattdessen das bereits bestehende Stromnetz der Bahn zu nutzen. Dieses umfasst knapp 8000 Kilometer, und bislang nutzt es der Konzern nur für die Versorgung des eigenen Zugverkehrs.

Die Deutsche Bahn steht Überlegungen, das Bahnstrom-Versorgungsnetz auch für die öffentliche Stromversorgung zu nutzen, skeptisch gegenüber. Die Bahn-eigenen Leitungen ließen sich nicht ohne weiteres für die Durchleitung von Allgemeinstrom nutzen, sagte Bahn-Vorstand Volker Kefer dem "Handelsblatt". Das Bahn-Stromnetz sei "auf unseren Bedarf zugeschnitten, inklusive eines Zuwachses für steigenden Verkehr".

Neben der Kapazitätsfrage müssten auch physikalisch-technische Probleme gelöst werden. Bahnstrom werde in Überlandleitungen mit einer Spannung von 110 Kilovolt transportiert, die großen Energieversorger hätten dagegen Leitungsnetze mit 380 Kilovolt. "Das ist ein erheblicher Unterschied, der eine Nachrüstung mit zusätzlichen Leitungen nötig machen würde", sagte Kefer. "Die schon diskutierte Aufstockung unserer Masten, um zusätzliche Leitungen zu installieren, wird in zahlreichen Fällen nicht möglich sein", sagte der Bahn-Vorstand. Dann müsse - wie bei einer völlig neuen Leitungstrasse auch - das gesamte planungsrechtliche Verfahren mit allen Bürgerbeteiligung durchgeführt werden.
ssu/AFP/dapd/dpa