Kann am Kernenergieausstieg festgehalten werden?
Quelle: Eike Schwarz (Eurosolar Bonn)
Thesen zur Stromversorgung mit Kernenergie
These 1
Die Kernenergie trägt mit rund 17 % zur weltweiten Stromerzeugung bei. Bei diesem Anteil und der
gegenwärtigen Reaktortechnologie reichen die Uranvorräte noch 50 bis 70 Jahre, also etwa so lang
wie die Öl- und Gasvorräte.
Wenn die Kernenergie einen signifikanten Beitrag zur Begrenzung der CO2-Emissionen leisten soll, dann müsste ihr heutiger Anteil an der Stromerzeugung mindestens gehalten werden. Das bedeutet bei dem zu erwartenden verdoppelten weltweiten Stromverbrauch in den nächsten 30 Jahren, dass die Uranvorräte nur noch wenige Jahrzehnte reichen würden. Mittels Schnellbrutreaktoren und Wiederaufarbeitungsanlagen wäre es jedoch möglich, die Uranvorräte um etwa den Faktor 60 zu strecken und dadurch das Ressourcenproblem zu beheben. Allerdings gibt es bisher weltweit keinen kommerziellen Brutreaktor.
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These 2
Die Sicherheit der Kernkraftwerke wird in Öffentlichkeit und Politik kontrovers beurteilt. Ein wichtiger
Grund hierfür ist der unterschiedliche Kontext, in dem der Begriff "sicher" verwendet wird:
Atomrechtlich ist ein Kernkraftwerk sicher, wenn die theoretische Berechnung der nach Stand von Wissenschaft und Technik zu unterstellenden Unfallmöglichkeiten ("Störfallszenarien") ergibt, dass vorgegebene Grenzwerte beim Schadensausmaß nicht überschritten werden. Wenn die Kernkraftwerke diese Grenzwerte einhalten, gelten sie im atomrechtlichen Sinne als sicher und dürfen betrieben werden.
Es ist allerdings möglich, dass sich die den Berechnungen zugrunde gelegten Ausgangsdaten als unzutreffend erweisen bzw. sich die Anlage oder die Betriebsmannschaft nicht so verhalten wie unterstellt. Im Ergebnis kann ein katastrophaler Kernkraftwerksunfall nicht ausgeschlossen werden, durch den eine große Region verstrahlt und dauerhaft unbewohnbar wird. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen Unfalls sehr gering, doch ist keine Aussage über den Eintrittszeitpunkt möglich, d. h. ein solcher Unfall kann jederzeit, sogar noch heute, eintreten. So gesehen können die Kernkraftwerke nicht als sicher – im Sinne völliger Sicherheit – eingestuft werden. Deshalb ist 1994 das Atomgesetz unter Bundeskanzler Kohl dahin-gehend novelliert worden, dass bei neuen Kern-kraftwerken die Auswirkungen auch schwerster Unfälle auf das Kraftwerksgelände begrenzt blei-ben müssen. Diese Forderung erfüllen die deut-schen Kernkraftwerke nicht. Daher verbieten sich auch Laufzeitverlängerungen. Ginge es allein nach Sicherheitsgesichtspunkten, müssten die Kernkraftwerke sofort abgeschaltet werden. Das ist jedoch nicht möglich, schon weil dann die Stromversorgung nicht aufrechterhalten werden könnte.
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These 3
Bei einem katastrophalen Unfall in einem Kernkraftwerk stehen zur Schadensregulierung 2,5 Mrd. Euro unmittelbar
bereit (Deckungsvorsorge).
Das erscheint viel, entspricht jedoch nur 2.500 Euro pro Geschädigten bei realistisch einer Million
Betroffenen, wenn eine ganze Region verstrahlt ist. Zwar haften die Unternehmen für alle
diesbezüglichen Schäden unabhängig von einem Verschulden unbegrenzt mit ihrem gesamten
Vermögen, de facto muss bei einem über die Deckungsvorsorge hinausgehenden Unfallschaden jedoch
die Allgemeinheit zahlen. Der einzelne Bürger kann sich dem Risiko auch nicht durch den Abschluss einer
Individualversicherung entziehen.
These 4
Die Entsorgung radioaktiver Abfälle ist bisher nirgendwo in der Welt gelöst. Durch einen
Übergang auf die Brutreaktortechnologie würde diese Problematik wegen der dann notwendigen
Wiederaufarbeitung noch verschärft. Bevor bei der Entsorgung keine durchgreifenden und
glaubwürdigen Fortschritte erreicht worden sind, verbietet sich eine dauerhafte Nutzung der Kernenergie.
These 5
Die Nutzung der Kernenergie hat trotz aller Sicherheitsmaßnahmen unvermeidlich radioaktive Emissionen in
geringem Umfang zur Folge. Über das Risiko niedriger radioaktiver Strahlungsbelastung ist jedoch immer
noch zu wenig bekannt.
These 6
Die politisch geforderte Trennung zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Kernenergie ist
technologiebedingt nicht möglich. Daher dürfte sich auch in Zukunft kaum verhindern lassen, dass es
weiteren Staaten gelingt, auf der Basis der zivilen Nutzung der Kernenergie Atomwaffen zu entwickeln.
These 7
Der Ausstieg aus der Kernenergie ist im Atomgesetz festgelegt auf der Basis einer entsprechenden Vereinbarung
zwischen der Bundesregierung und den großen Stromversorgungsunternehmen. Deshalb ist deren lautstarke
Opposition gegen den Ausstieg in höchstem Maße unredlich.
These 8
Deutschland ist in der EU mit seiner Kernenergieausstiegspolitik keineswegs isoliert. Denn von
den 27 Mitgliedstaaten der EU nutzen nur 15 die Kernenergie, von denen 9 Staaten sie auch weiterhin nutzen
wollen, darunter die Atommächte Frankreich und Großbritannien. 11 Mitgliedstaaten haben sie nicht
eingesetzt. Italien hat den Ausstieg bereits vollzogen. Belgien, Deutschland, die Niederlande, Schweden,
Slowenien und Spanien haben Ausstiegsbeschlüsse gefasst.
These 9
Nachdem Deutschland den Ausstieg aus der Kernenergie gesetzlich geregelt hat, sollte die Bundesregierung
entsprechende Aktivitäten zur Neuorientierung von Euratom, der Nuclear Energy Agency (NEA) und der
Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) entfalten und als Gegengewicht die Gründung einer
internationalen Organisation zur Förderung der Erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz und der
Energieeinsparung betreiben („IRENA“).
These 10
Auch angesichts der besonderen Anforderungen des Klimaschutzes muss eine Abwägung des Nutzens der
Kernenergie im Verhältnis zu ihren Risiken zu dem Ergebnis kommen, dass ihre heutige Art der Nutzung
nicht verantwortbar und daher so schnell wie möglich zu beenden ist.
Thesen zur Stromversorgung ohne Kernenergie
These 1
Die Szenariotechnik ermöglicht es, komplexe Energiezukünfte transparent zu machen und dadurch der
politischen Entscheidung zuzuführen. So lässt sich erkennen, ob die auslaufende Stromerzeugung
aus Kernenergie kompensiert und das CO2-Reduktionsziel erreicht werden kann.
Ergebnis der Analyse ist: Die Kernenergie kann ersetzt werden durch konsequenten Ausbau der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung sowie durch rationelle Stromverwendung. Zugleich lässt sich das Ziel erreichen, die CO2-Emissionen bis 2050 um 80 % gegenüber 1990 zu reduzieren.
These 2
Gemäß Szenario belaufen sich die anfänglichen Mehrkosten des Ausbaus der Erneuerbaren
Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung zur Stromerzeugung einschließlich des Ersatzes der
Kernkraftwerke auf maximal 4 Mrd. Euro. entsprechend 0,8 ct/kWh und sollten daher volkswirtschaftlich
verkraftbar sein.
These 3
Die Umstellung der Stromerzeugung auf Erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-Kopplung erfordert wegen der
Dezentralität dieser Technologien neue Akteure wie Industrie- und Gewerbebetriebe, Kommunen und
Privatpersonen. Deren Engagement wird durch einen grundsätzlichen Interessenkonflikt zwischen ihnen
und der Stromwirtschaft gehemmt, der volkswirtschaftlich außerordentlich schädlich ist und
durch gesetzliche Vorgaben überwunden werden muss.
These 4
Damit der Ausbau der Erneuerbaren Energien wie in These 1 unterstellt voranschreitet, muss das
Erneuerbare-Energien-Gesetz noch für längere Zeit im Wesentlichen unverändert bestehen bleiben.
Die damit verbundenen Kosten erscheinen sowohl je Haushalt als auch gesamtwirtschaftlich vertretbar.
These 5
Eine der effizientesten Technologien zur CO2-Reduktion ist die gleichzeitige Erzeugung von Strom
und Wärme mittels Kraft-Wärme-Kopplung in Heizkraftwerken und Blockheizkraftwerken. Der Ausbau
der Kraft-Wärme-Kopplung gemäß These 1 wird jedoch nur dann in Gang kommen, wenn die
Wettbewerbsbehinderungen von (Block-) Heizkraftwerken gegenüber Kondensationskraftwerken gesetzlich
beseitigt werden. Dazu ist Strom aus Heizkraftwerken bei der Netzeinspeisung mit Vorrang abzunehmen und
mit einem Bonus zu begünstigen. Bei Blockheizkraftwerken ist eine Abnahmeverpflichtung mit
Festpreisregelung wie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz erforderlich. Diese Maßnahmen sollten im
Zuge der anstehenden Novellierung des Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetzes durchgesetzt werden.
Neue große Kondensationskraftwerke sind dann nur noch in Einzelfällen notwendig.
These 6
Die Forderung, zum Schutz des Klimas auf Kohle als Kraftwerksbrennstoff zu verzichten und stattdessen
Erdgas einzusetzen, verkennt die Liefer- und Preisrisiken der Gasversorgung und erhöht die Importabhängigkeit.
Deshalb sind auch neue Kohle(heiz)kraftwerke notwendig. Diese sollten
möglichst mit Braunkohle betrieben werden.
These 7
Die Technologie der CO2-Abtrennung und Speicherung ist nicht notwendig, um das CO2-Reduktionsziel
von 80 % bis 2050 zu erreichen. Die anstehende Umstrukturierung der Stromerzeugung in Deutschland braucht
daher nicht auf diese Technologie ausgerichtet zu werden, zumal sie im Kraftwerksbereich bisher noch
nicht großtechnisch realisiert worden ist. Als Hauptproblem wird derzeit die Gewährleistung einer
sicheren CO2-Rück-hal-tung über Jahrtausende erachtet – neben den hohen Kosten und dem
erheblichen Energiemehrbedarf.
These 8
Wegen der mit der Stromerzeugung verbundenen Umwelt- und Klimafolgen sollte Strom rationell und sparsam
verwendet werden.
Dazu tragen folgende Maßnahmen bei:
Die üblichen gespaltenen Strompreise mit festen Anteilen (Grund- oder Leistungspreis plus Messpreis) und
verbrauchsabhängigem Anteil (Arbeitspreis) sollten durch eingliedrige Strompreise abgelöst werden
(nur Arbeitspreis):
Eingliedrige Strompreise begünstigen eine rationelle und sparsame Stromverwendung.
Der Strompreis sollte die im Tagesverlauf unterschiedliche Belastung der Stromversorgung widerspiegeln und daher zeitlich gestuft sein („zeitvariable lineare Strompreise“), um der teuren Spitzenbelastung der Stromversorgung entgegenzuwirken.
Strom sollte nicht zur Raumheizung eingesetzt werden (einschließlich strombetriebener Wärmepumpen). Dafür gibt es in der Regel klimaschonendere Alternativen.
Effizienz- und Kennzeichnungsvorschriften sind dort erforderlich, wo die Marktmechanismen unzureichend greifen, und es ist ein Ausbau der Energieberatung notwendig.
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These 9
Die Umstellung der deutschen Volkswirtschaft auf eine CO2-Reduktion um 80 % bis 2050 (gegenüber
1990) ist ein gewaltiger Kraftakt und erfordert im Strombereich den
Entscheidend sind nicht die Kosten, sondern der politische Wille, dies gegenüber den etablierten Interessen durchzusetzen. Je tatkräftiger Deutschland und andere Industrieländer hierbei voranschreiten, desto bereitwilliger werden Schwellen-und Entwicklungsländer folgen.
Dr.-Ing. Eike Schwarz ist Mitglied des Vorstands der EUROSOLAR-Sektion Deutschland
SOLARZEITALTER 4 2007