Billiges Erdöl fordert einen hohen Preis
Von Hermann Scheer

Der Irak-Krieg ist eine Folge der Zertrümmerung des Energieprogramms von USPräsident Jimmy Carter durch seine Nachfolger

US-Präsident Jimmy Carter hatte die vollständige Umstellung der US-Wirtschaft auf Erneuerbare Energien bis zum Jahr 2050 angestrebt. Seine Nachfolger setzten diesen Kurs jedoch nicht fort. Mit fatalen Folgen. Denn die Erdölinteressen der USA münden unter anderem im aktuellen Irak-Krieg. Dies belegt Hermann Scheer in seinem Beitrag.

Dass es beim Irak-Krieg um Erdöl geht, wird zwar immer noch vielfach bestritten - nicht zuletzt von außenpolitischen Experten. Diese verfolgen das diplomatische Spiel der internationalen Politik, aber offenbar nicht dessen Hintergrund - zumindest was die US-amerikanische Politik anbetrifft. In dieser gibt es seit dreißig Jahren eine durchgängig geführte Diskussion über die Energiesicherheit, ausgelöst durch die Weltölkrise von 1973.

Kein Land war von dieser Krise so geschockt wie die USA, weil kein Land auch nur annähernd so energiegierig ist: mit fünf Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen sie 25 Prozent der jährlichen kommerziellen Energieangebote.

Billige Energie gilt als Bedingung für den "American way of life". Kein westliches Industrieland hat derart niedrige Energiesteuern und entsprechend niedrige Energiepreise wie die USA. Die Vorstellung, dass sich die Energie wesentlich verteuern könnte, ist eine Obsession der amerikanischen Gesellschaft und damit auch ihrer politischen Repräsentanten. Deshalb der Widerstand gegenüber dem Weltklima-Abkommen, in dem sich Präsident Clinton kaum von Bush unterschied, und der von einer überwältigenden Mehrheit des Senats getragen war. Sie besteht, obwohl sie irrational ist, bezogen auf die Zukunft wie auf die Gegenwart: An der Endlichkeit der Ölvorkommen führt sie nicht vorbei, und die durchschnittlichen Energiekosten amerikanischer Firmen und Privathaushalte sind mindestens genauso hoch wie in der EU oder in Japan, weil die niedrigen Energiepreise den Mehrverbrauch begünstigen.

Obsession
Solange diese Obsession aber besteht, ist damit zu rechnen, dass sich die Verweigerungshaltung der USA gegenüber jeder substanziellen Energiereform, die auf Verbrauchsminderung (Energieeinsparen, Energieeffizienz) und auf die Ablösung atomarer/fossiler Energiequellen durch Erneuerbare Energien, in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik unmittelbar niederschlägt: in einen Kampf um die uneingeschränkte Verfügbarkeit der billigen weltweiten Energieressourcen.

In der amerikanischen Selbstsuggestion ist daraus ein elementarer Selbsterhaltungstrieb geworden, für den sie bereit waren und sind, atemberaubende politische, gesellschaftliche und militärische Kosten in Kauf zu nehmen.

Die politischen Kosten bestanden jahrzehntelang in der frivolen Kooperation mit mittelalterlichen Feudalregimen wie Saudi-Arabien oder sogar mit den afghanischen Taliban, was allen demokratischen Werten Hohn spricht, und - zuletzt - im Bruch des Völkerrechts und der eklatanten Ignorierung des UN-Sicherheitsrats bei ihrer Entscheidung zum Irak-Krieg.

Die gesellschaftlichen Kosten bestehen vor allem in der Inkaufnahme der Umweltzerstörung. Die militärischen Kosten bestehen nicht nur in den unmittelbaren Kriegskosten, sondern in der ständigen militärischen Bereitstellung in der Golf-Region: Seit 1991 haben die USA dafür insgesamt etwa 600 Milliarden Dollar aufgewendet. Umgerechnet auf das Barrel Öl, das aus der Golf-Region in die USA geliefert wird, sind das etwa 100 Dollar. Dies war, je nach aktuellem Ölpreis, das Vier- bis Achtfache der Kosten pro Barrel Öl!

Argumente von Erdölexperten, dass es im Irak-Krieg deshalb nicht um das Erdöl gehen könne, weil jedes Erdöl exportierende Land - unabhängig von seiner politischen Ordnung - ein zwingendes wirtschaftliches Interesse am Ölverkauf habe, sind zu kurz gedacht und übersehen die tatsächliche amerikanische Motivlage vor dem Hintergrund der sich erschöpfenden Erdölpotenziale.

Selbstverständlich wissen auch die USA, dass die flüssigen - und damit billigen, weil leicht zu fördernden - Ölvorkommen in etwa vier Jahrzehnten zu Ende gehen. Sie wissen, dass zwei Drittel dieser Reserven in der Golf-Region liegen, die relativ größten in Saudi-Arabien und in Irak.

Daraus ergibt sich, dass die Abhängigkeit vom Erdöl aus der Golf-Region weiter steigt. Sie kennen aber vor allem die Relation zwischen jährlicher Erdölförderung und den Reserven der einzelnen Förderländer: In Saudi-Arabien ist diese Relation etwa 1:50, ebenso in Iran, in den Vereinigten Arabischen Emiraten etwa 1:75, in Kuwait 1:110 - und in Irak 1:500!

Daraus ergibt sich: Die Bedeutung der irakischen Ölvorkommen steigt von Jahr zu Jahr!
Ginge es künftig nur nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage im Weltmarkt, dann ist die weitere Entwicklung leicht vorhersehbar: Es wird wegen der in den nächsten Jahrzehnten anstehenden zunehmenden Angebotsverknappung gegenüber der weltweiten Nachfrage unweigerlich Preissteigerungen geben. Wer das vermeiden will, muss sich jetzt einen privilegierten Zugang zu den Ölquellen sichern.

Wer diesen hat, kann sich noch für einige Jahre länger auf billige Erdöleinfuhren stützen; wer diesen nicht hat, muss die Preissteigerungen in Kauf nehmen. Wer den Zugang hat, hat damit vorübergehend entscheidende Weltmachtvorteile gegenüber anderen - der gewinnt also mit der militärischen Weltmacht, mit der die Ressourcenzugänge gesichert werden, auch die ökonomische Weltmacht! Voraussetzung ist, dass die USA dann auch dazu übergehen müssten, die Welthandelsordnung zu sprengen - was sie, bei Fortsetzung ihres gegenwärtigen Kurses, genauso bedenkenlos tun werden wie die Sprengung des Völkerrechts.

Dies alles gilt unter der Bedingung, dass die Volkswirtschaften vom Erdöl abhängig bleiben und immer noch keine Strategie einschlagen, sich durch Mobilisierung Erneuerbarer Energien - insbesondere auf dem Kraftstoffsektor für die Transportsysteme - unabhängig vom Erdöl zu machen. Wer diese Strategie nicht einschlägt, landet mit teuflischer Logik bei der amerikanischen Strategie und deren Unterstützung, um von den USA am Ölkuchen beteiligt zu werden. Es ist zu vermuten, dass das auch die heimliche Motivation der britischen Regierung für die Beteiligung am Irak-Krieg an der Seite der USA ist. Immerhin sind zwei der sieben weltgrößten Erdölkonzerne ganz oder überwiegend britisch: BP und Shell. Auch Großbritannien unterhält seit den 90er Jahren stand-by-forces in der Golf-Region mit etwa 4000 Soldaten und damit jährlichen Kosten von mehreren Milliarden Dollar.

Dass es aber auch den anderen Weg gibt, haben - und das ist das denkwürdige - auch die USA gezeigt. Allerdings liegt das nun schon 23 Jahre zurück! Die andere Linie, und damit das andere Amerika, wurde vor allem von Jimmy Carter repräsentiert, der von 1977 bis 1981 Präsident war.

Eingeleitet wurde sie aber bereits von seinem Vorgänger Richard Nixon, der 1974 ambitionierte Forschungs- und Entwicklungsprogramme für Erneuerbare Energien startete. 1975 lag der erste Plan der Federal Agency zur Initiierung der Massenproduktion von Solarzellen vor. Der "Council on Environment Quality", ein "Executive-Office" Carters, legte 1978 den Plan vor, bis zum Jahr 2000 bereits 23 Prozent der gesamten Energieversorgung der USA mit Sonnenenergie zu decken. Ein "Energy Independent Act" wurde verabschiedet.

Das andere Amerika
Das amerikanische Forschungsprogramm für Erneuerbare Energien übertraf alle anderen Regierungen um Längen. "Solar America" hieß das Motto, zahlreiche grassroots-Initiativen entstanden. Das "Energy and Defense"-Projekt Carters legte 1980 das Konzept unter der Überschrift "Dispersed, Decentralized and Renewable Energy Sources: Alternatives to National Vulnerability and War" vor, das bis zum Jahr 2050 die volle Umstellung der amerikanischen Energieversorgung auf Erneuerbare Energien empfahl und durchrechnete - und die Mär widerlegte, dass die Kosten dafür zu hoch seien.

Doch mit der Abwahl Carters durch Ronald Reagan war diese Strategie beendet. Reagan, dessen Wahlkampf von den US-Ölkonzernen finanziert worden war, zertrümmerte es systematisch. Als dessen Amtszeit 1989 zu Ende war, war das US-Förderprogramm für Erneuerbare Energien auf etwa 10 Prozent der Summe von 1980 rasiert worden.

Reagans Nachfolger Bush senior und Bush junior setzten bzw. setzen dessen Linie nahtlos fort, und selbst Clinton vermochte sie nicht mehr zu ändern. Sie entspricht sowohl den Interessen der Öl- wie der Rüstungskonzerne, die nicht nur das einflussreichste innenpolitische Umfeld der amerikanischen Politik darstellen, sondern bei Reagan, Bush senior und Bush junior auch weit überwiegend das Regierungspersonal stellten und stellen.

Der Ansatz Reagans mündet direkt in das von US-Vizepräsident Cheney im Sommer 2001 vorgelegte "Nationale Energieprogramm", das in der Empfehlung gipfelt, die Sicherung der weltweiten Energieressourcen ins Zentrum der US-Außen- und Sicherheitspolitik zu rücken.

Als am 8./9. November 1991 - nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und mit dem der Sowjetunion - die Nato-Gipfelkonferenz in Rom stattfand und die "Neue Strategie des Bündnisses" festlegte, war dessen Aufgabe vorprogrammiert: fortan ging es bei der Bekräftigung der Atomwaffenstrategie nicht mehr um die "atomare Abschreckungsbalance" mit der Sowjetunion und die Kompensation der angeblichen konventionellen Truppenüberlegenheit des Warschauer Pakts, sondern um die Bekämpfung der "neuen Gefahren aus dem Süden", also von Ländern, die auch bei konventionellen Streitkräften weit unterlegen waren - qualitativ wie quantitativ - und (noch) gar keine Atomwaffen haben. Inhaltlich sollte es um die militärische Sicherung der Ressourcenzugänge und um die Bekämpfung des Terrorismus gehen.

Wie Lemminge
Kaum einer in Europa nahm das ernst, obwohl der erste Golf-Krieg inzwischen schon stattgefundenhatte: Mit diesem sollte verhindert werden, dass Saddam Hussein - der bisherige Bündnispartner gegen den iranischen Fundamentalismus - eine regionale Vormachtstellung in der Golf-Region erringt. Nach seinem Zugriff auf Kuwait hätte er allein über die größten Ölreserven verfügt.

Dass dieser Golf-Krieg abgebrochen und nicht bis zum Sturz Saddam Husseins weiter getrieben wurde, hatte einen zentralen Grund: als zurechtgestutzte Ordnungsmacht konnte man ihn noch brauchen, weil ein ansonsten drohender Verfall Iraks das seinerzeit politisch widerspenstigste – weil fundamentalistischste - Ölförderland Iran gestärkt hätte; etwa durch den freiwilligen Anschluss der schiitischen Siedlungsteile des Irak - und damit aller Ölhäfen des heutigen Irak.

Von dem fundamentalen Politikwechsel von Carter zu Reagan haben sich die USA in ihrer Energiepolitik - und damit zugleich in ihrer Umweltpolitik und ihrer Außen- und Sicherheitspolitik - nie wieder erholt.

Die europäischen Staaten folgten wie Lemminge, weil sie nicht den Willen gegen ihre eigenen Energiekonzerne aufbrachten, eine Strategie der Energieunabhängigkeit mit Erneuerbaren Energien einzuschlagen. Deshalb haben sie alle Nato-Beschlüsse zur Sicherung der Ressourcenzugänge seit 1981 mitgetragen - ohne sich über die umfassenden Konsequenzen im Klaren zu sein.

Auch die Clinton/Gore-Regierungszeit zwischen 1993 und 2001 hat es nie geschafft, an die Cartersche Strategie wieder anzuknüpfen. Nicht einmal das Grünbuch der EU-Kommission zur Energieversorgungssicherheit aus dem Jahre 2000 und der Abschlussbericht vom Jahre 2002 (!) thematisieren diese politischen Zusammenhänge – immer noch den Einflüsterungen der eigenen Energiekonzerne folgend, die die Zukunft verspielen, um ihre aktuellen Gegenwartsinteressen zu sichern. Die Auswahl des von Carter repräsentierten "anderen Amerika" hat nicht nur die USA, sondern auch die Welt um ein Vierteljahrhundert zurückgeworfen, obwohl sich die Welt schon in einem Wettlauf mit der Zeit - geprägt durch die ökologische Weltkrise und die nahende globale fossile/atomare Energieversorgungskrise - befindet. Sie war ein weltpolitisches Verhängnis, das seitdem immer breitere und längere Schatten wirft, bis zu dem des aktuellen Krieges und gar weiterer Ressourcenkriege.

Aus Rücksicht auf die kurzfristigen und -sichtigen Interessen der Energiekonzerne wird der weltökologische und ökonomische Selbstmord und ein scheibchenweiser Völkermord riskiert.

Das ist die Absurdität der amerikanischen Strategie.
Und es ist der verdrängte Widerspruch der europäischen Kriegsverweigerer - denen von der Bush-Regierung mangelnde Loyalität und praktische Konsequenz vorgeworfen wird, weil sie zwar das Öl konsumieren, aber es nicht mit militärischen Mitteln sichern wollen. Immerhin haben sie die einschlägigen Nato-Beschlüsse, deren Umsetzung wir gerade - allerdings ohne Nato - erleben, theoretisch mitgetragen. Tatsächlich geht es aber endlich um die andere Konsequenz: Befreien wir uns endlich mit einer umfassend angelegten Strategie von dieser Energieabhängigkeit! Statt heimlich davon mit zu profitieren, dass die USA die Weltölvorkommen unter ihre politische Kontrolle nehmen, sollten wir offen zur Kenntnis nehmen (und aus ökologischen Gründen darüber froh sein), dass die Erdölquellen - die "Tränen des Teufels" (Rockefeller) - versiegen, weil deren fortgesetzte Verbrennung unermessliche Folgen hervorruft.

Mobilisieren wir die Erneuerbaren Energien durch eine darauf bezogene "grand strategy", die über die mehr oder weniger gelungenen bisherigen Stückwerke weit hinausgeht! Das Nein zum Irak-Krieg ist nur die eine Seite der politischen Medaille, die andere Seite ist das umfassende Ja zur Energie-Alternative. Wenn wir diesen Weg einschlagen, der 1980 in Washington verlassen wurde, wird dieser auch zur Renaissance des anderen Amerika führen.