Der Preis für Erdöl hat sich seit 2001 verfünffacht

Die Weltwirtschaft hat davon bisher nichts gespürt. Ist sie immun geworden?

Hat zu Jahresbeginn 2004 der Preis für ein Barrel (159 ltr.) noch 30 US Dollar betragen, so musste man dafür zu Jahresbeginn 2005 bereits 40 Dollar auf den Tisch legen.
Momentan halten wir bei einem Höchstwert von mehr als 60 Dollar. Und der Preis wird weiter steigen, vor allem zu Beginn der Heizperiode sind Werte um 75 Dollar zu erwarten. Im weiteren Jahresverlauf ist ein Rückgang der Preise auf ca. 60 Dollar denkbar, ein Wert, der langfristig nicht mehr unterschritten werden wird.

Ganz und gar nicht im Interesse der grossen Öllieferanten, die uns so lange als möglich vorgaukeln wollen, Erdöl ist eine sichere Energiequelle und der Ölpreis bleibe stabil.
Das wirtschaftliche Verständnis über die Wirkung höherer Erdölpreise ist leicht erklärt: „Im wesentlichen gleich einer Steuererhöhung“, wissen Ökonomen. Unternehmen, die Erdöl im Produktionsprozess einsetzen – sofern sie die Erhöhungen nicht an ihre Kunden weitergeben können – verlieren an Profitabilität. Ein Teil ihrer Produktion wird unprofitabel. Konsumenten auf der anderen Seite – sie sind durch höhere Preise für Benzin und Heizöl betroffen – bleibt durch einen Preis-Anstieg weniger verfügbares Einkommen in der Tasche. Folglich sinkt ihre Kaufkraft – weniger privater Konsum ist die Folge. Beides Faktoren, die der Wirtschaft eines Landes potenziell Wachstum kosten.

Erklärungs-Nostand

Und doch: Trotz der einleuchtenden Theorie über die negative Wirkung höherer Ölpreise scheint sich in den letzten Jahren etwas geändert zu haben: Preise an der Grenze zur 100-Dollar-Marke wären noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Auf solche Szenarien angesprochen, hätten Ökonomen vermutlich apokalyptische Bilder in die Zukunft projiziert.
Nicht zu Unrecht: Schließlich haben die beiden bisherigen Ölschocks in den Jahren 1973 und 1978 – als die Opec, die Organisation Erdölexportierender Länder beschloss, ihre Fördermengen stark einzuschränken – Volkswirtschaften weltweit viel Wachstum gekostet. Und er aktuelle Anstieg? Geht man sechs Jahre zurück, war ein Barrel Öl noch für rund 20 Dollar zu haben. Eine Verfünffachung der Preise in wenigen Jahren also.

Und was ist geschehen? Nichts.
Bisher hat die Rally des Ölpreises kaum Auswirkungen auf die Wirtschaft der entwickelten Länder gezeigt. Ganz zu Schweigen von Wachstums-Raten jenseits der zehn Prozent in einigen Entwicklungsländern. Was hat sich geändert? Hat der Faktor Öl am Ende und Bedeutung verloren?

Schlüsse der Ökonomen

Zwei neue Studien, verfasst von einem Trio bekannter Ökonomen, wagen einen Erklärungsversuch: Warum sind die 2000er so verschieden von den Entwicklungen der 70er, fragen sich etwa Oliver Blanchard und Jordi Gali vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Der Schluss, zu dem die Ökonomen kommen: Der Ölpreis hat einen Teil seines Drohpotenzials eingebüßt. Die Ökonomen führen das auf drei Faktoren zurück: Zunächst wird in Relation zum globalen Output bei weitem weniger Öl verwendet als noch vor dreißig Jahren.
Geht man von einem Öl-Konsum von 100 Prozent pro Einheit der weltweit produzierten Güter im Jahr 1970 aus, so ist der Anteil von Öl an der weltweiten Produktion bis 2006 stark gesunken: Heute beträgt er lediglich rund 50 Prozent je produzierter Einheit. Fazit: Die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von Öl ist in den letzten 35 Jahren bedeutend geringer geworden. Mitgetragen von einem deutlich höheren Anteil der Service- und Dienstleistungssektors am globalen Output.

Höhere Flexibilität hilft

Der zweite Faktor ist die erhöhte Flexibilität entwickelter Volkswirtschaften. Waren in den 70er Jahren die Lohn-Preis-Relationen relativ rigide – eine Erhöhung des Ölpreises zog unweigerlich Gewerkschaftsforderungen nach höheren Löhnen nach sich – sind die Arbeitsmärkte heute tendenziell flexibler. Dadurch ist die Belastung von Unternehmen durch den höheren Preis geringer, müssen sie doch nicht auch an der Lohnfront 1:1 Kostenerhöhungen in Kauf nehmen.
Als dritten und letzten Faktor führen die Ökonomen das erhöhte Vertrauen von Konsumenten und Wirtschaft in die Politik der Zentralbanken an. Der Glaube, die Zentralbanken können langfristig stabile Preise sichern, reduziert ebenfalls überzogene Forderungen von Arbeitnehmern und Gewerkschaften, für Preiserhöhungen umgehend entschädigt zu werden.

Kein Freibrief

Allerdings, schränken die Ökonomen ein, hat die rapide Steigerung des Ölpreis seit letztem Sommer keinen Eingang in ihre Studien gefunden. Ein Anstieg, der selbst im Vergleich zu den beiden Ölschocks der 70er Jahre enorm ist. Ihr Fazit: Für Amerika kommt der steigende Ölpreis zu einer denkbar ungünstigen Zeit: Denn neben den gestiegenen Preisen für Benzin und Heizöl müssen Konsumenten gleichzeitig mit einigen weiteren Schocks fertig werden: Die fallenden Preise am amerikanischen Häusermarkt reduzieren das Vermögen amerikanischer Bürger substanziell.

Striktere Kreditbedingungen und einen die letzten Monate leicht steigende Arbeitslosigkeit kosten den Konsumenten weiteres Vertrauen. Die Aussichten für die amerikanische Wirtschaft scheint nicht sehr rosig, sind sich Ökonomen weltweit einig. Und verlangsamt sich die amerikanische Wirtschaft, werden wohl Folgen für die globalen Märkte Europas und Asiens nicht ausbleiben, so der Konsens. Das Ausmaß ist offen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2007)