In Tirol fliesst das Wasser bergauf
Quelle: Neue Zürcher Zeitung v. 8.Juli 2006
Die großen Ausbauprojekte der Tiroler Wasserkraft AG - Die lokale Bevölkerung in den Tälern setzt sich zur Wehr.
In Tirol geschehen seltsame Dinge: Wasser fliesst bergaufwärts, Kraftwerke schalten sich wie von Geisterhand ein und aus, Wasserfälle versiegen plötzlich des Nachts und verspritzen am nächsten Morgen ihre Wasserfülle, als ob nichts gewesen wäre. Tirols «grösster und schönster Wasserfall», wie die Tourismuswerbung schwärmt, befindet sich unweit der Ortschaft Umhausen im Ötztal. Der Bürgermeister, der zugleich als Abgeordneter im Tiroler Landtag sitzt, hat angeblich mit der Tiwag, der im Eigentum des Bundeslandes stehenden Tiroler Wasserkraft AG, ein Abkommen geschlossen: Nachts, wenn die Touristen weg sind, darf die Tiwag das Wasser des gewaltigen Wasserfalls durch Rohre im Berginnern in ihre Speicherseen leiten. Dafür liefert sie abends, als besondere Attraktion für die letzten Kurgäste, gratis Strom zur Beleuchtung des Naturschauspiels. Im Nordosten, auf der anderen Seite des Berges, des 3007 Meter aufragenden Acherkogels, befindet sich die leistungstärkste Kraftwerkgruppe der Tiwag, eine der grössten der ganzen Ostalpen, namens Sellrain-Silz. Die Tiwag plant einen weiteren Ausbau im grossen Stil. Die Bevölkerung macht dagegen mobil.
Geisterhaus in 82 Meter Tiefe
Das Kraftwerk Kühtai liegt auf 1900 Meter Höhe, am Rande des Speichersees Längental mit 3 Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen. Als uns der Techniker, der hier mutterseelenallein seinen 12-Stunden-Turnus absolviert, einlässt, betreten wir eine gespenstische Welt, die uns auf 82 Meter unter Tag bringt. Riesige Betonhallen von peinlicher Sauberkeit, gespenstisch widerhallen unsere Stimmen. Wir klammern uns an die Metallgeländer, um unsere Schwindelgefühle in den Griff zu bekommen. Jähe Abgründe tun sich auf, tief unter uns erkennen wir die beiden Pumpturbinen mit 289 Megawatt Turbinen- und 250 Megawatt Pumpleistung, die sich 48 Meter unterhalb des Seespiegels befinden. Der Techniker berichtet, dass er während seiner Schicht jeweils zwei Kontrollgänge in dem Bau absolviert; jeder von etwa sieben Kilometer Länge.
Sein spezielles Mobiltelefon, mit dem er stets erreichbar sein muss, erlaubt ihm auch kurze Aufenthalte draussen, an der frischen Luft - doch die Reichweite des Telefons, eine Art unsichtbarer Kette, endet knapp beim Seeufer. Früher seien sie wenigstens zu zweit gewesen, berichtet er, doch damit sei es jetzt vorbei: Sparmassnahmen. Im Kontrollraum läuft ein Radio; seine einzige Verbindung zur realen Welt draussen. Sonst sind da nur Laptop-Bildschirme mit farbigen Grafiken, deren Faszination für ihn offenbar ungebrochen ist. Sie vermitteln die neuesten Daten, geben ständig Auskunft über die Lage in sämtlichen Tiroler Kraftwerkanlagen. Unten im Tal, am Ende eines Wasserstollens mit 1238 Meter Fallhöhe, liegt das zur Kraftwerkgruppe Sellrain-Silz gehörende Kraftwerk Silz mit einer Gesamtleistung von 500 Megawatt.
Der heimliche Atomstrom
Doch das eigentlich Gespenstische am Kraftwerk Kühtai ist der Umstand, dass dieser Techniker die Turbinen seines Kraftwerks nicht selbst in Betrieb setzt. Ja er weiss nicht einmal, wann sie mit höllischem Dröhnen anlaufen und wann sie wieder stillstehen. Sie werden nämlich ferngesteuert. Irgendwo in Deutschland, im fernen Düsseldorf oder Köln. Da es sich um Pumpturbinen handelt, können sie in zwei Richtungen rotieren und somit zwei Funktionen ausüben: Nachts, wenn Deutschland Strom-Überkapazitäten hat und diese, um Überlastungen vorzubeugen, ableiten muss, werden die Turbinen mit billigem Atomstrom, aber auch mit fossiler Elektrizität aus dem Nachbarland als Pumpen betrieben, die Wasser aus dem tiefer liegenden Längental-Stausee in den 400 Meter höher gelegenen Speicher Finstertal hinaufpumpen. Insgesamt 20 Mal pro Jahr wird angeblich dieser Speichersee mit importiertem thermischem Strom gefüllt.
Wenn dann in Deutschland abends die Lichter angehen, Kochplatten und Fernsehapparate eingeschaltet werden und die Fussballspiele in den Stadien beginnen, wird in Hunderten von Kilometern Entfernung das Kraftwerk Kühtai per Fernsteuerung zugeschaltet, und die Turbinen, die sich nunmehr in die Gegenrichtung drehen, produzieren teuren Spitzenstrom. Kritiker rechnen vor, dass für 100 Kilowattstunden mit Wasserkraft erzeugten Strom jeweils 130 Kilowattstunden für das Hinaufpumpen des Wassers eingesetzt werden müssten. Dabei bemängeln sie vor allem die «Doppelmoral», die darin liege, dass sich Österreich prinzipiell gegen Atomstrom entschieden habe und gegen die unsicheren Kernkraftwerke in Grenznähe polemisiere, aber stillschweigend «schmutzigen» Atomstrom importiere, um dann mit «sauberem» Strom aus Tiroler Wasserkraft ein gutes Geschäft zu Spitzentarifen zu machen.
Nicht genug: Die Tiwag plant als eine von vier Optionen für den massiven Ausbau ihrer Kraftwerke oberhalb des bestehenden Stausees einen zusätzlichen, weit grösseren Stausee mit der neunfachen Kapazität (27 Millionen Kubikmeter) des Speichers Längental. Den Abschluss soll ein 115 Meter hoher Damm bilden. In der Informationsbroschüre der Tiwag wird beschwichtigt: Eine Beeinträchtigung des Alpin- und Wandertourismus, der Erlebniswelt rund um die Hütten und oberhalb bis zu den Berggipfeln «gibt es nicht», wird kategorisch behauptet.
Ziemlich anders sehen es Naturschützer, Alpinisten und Bergbauern. Durch die Fassung und Umleitung zahlreicher Gletscherbäche und aus den Hochtälern komme es zu Trockenheit, und die Alpenflora verkümmere. Allein der kleine Speichersee Längental wird von 13 Bächen aus dem Sellrain-, Stubai- und Ötztal alimentiert. Obwohl die Tiwag versichert, dass den Bächen nur eine limitierte Wassermenge entnommen wird, beharren die ortskundigen Alpinisten darauf, dass dennoch Bachläufe austrocknen. Das Bachbett wächst zu und verkommt, es ist nicht mehr in der Lage, grosse, plötzlich auftretende Wassermengen zu kanalisieren. Nach starken Regenfällen schiessen die Wassermassen unkontrolliert zu Tal und schwemmen Geröll und Schlamm mit sich. Überschwemmungen oder Schlammlawinen sind die Folge. Im Kaunertal werde zudem vom geplanten Speichersee ein geschütztes Moränen- Gebiet überschwemmt.
Wachsende Energieabhängigkeit Tirols
Die Tiwag hat jetzt ihren Bericht zu vier Kraftwerkprojekten der Tiroler Landesregierung übergeben; die Entscheidung wird bis Mitte Juli erwartet. Die Tiroler Kraftwerkgegner sind alarmiert. Sie sprechen vom bei weitem grössten Eingriff in die Natur, der in Tirol jemals durchgeführt worden sei. Für Naturschützer und für den Tourismus seien die Projekte, vor allem jene, die das berühmte Ötztal tangieren, ein potenzieller Super-GAU. Und das alles nur, um international mit Strom zu handeln.
Bruno Wallnöfer, der Tiwag-Vorstandsvorsitzende, sieht die Dinge naturgemäss völlig anders. Jene Kritik sei sachlich völlig unhaltbar, erklärt er im Gespräch in der Tiwag-Zentrale unmittelbar neben dem Sitz der Tiroler Landesregierung in Innsbruck. Wallnöfer bezieht sich auf Prognosen, nach denen sich der Stromverbrauch in der EU bis zum Jahr 2030 um mehr als 50 Prozent erhöhen werde. Das Bergland Tirol sei trotz all seiner Wasserkraft zum Strom-Importland geworden. Der Anteil der Eigenversorgung Tirols aus Anlagen der Tiwag habe sich seit 1981 von 79 Prozent auf 53 Prozent verringert. Wenn Tirol nicht neue Grosskraftwerke baue, werde sich der Anteil der Eigenversorgung aus Tiwag-Anlagen auf 39 Prozent reduzieren (56 Prozent, wenn man Stadtwerke und private Kraftwerke einbezieht). Dies würde, sagt Wallnöfer warnend, die Versorgungssicherheit und damit die Unabhängigkeit Tirols gefährden.