Nur wenige Minuten vor dem GAU
Beinahe-Katastrophe im schwedischem Atomreaktor Forsmark I
Nach einem Kurzschluss fielen dort mehrere Sicherheitssysteme aus. Ein Reaktorkonstrukteur hält es für Zufall, dass keine Kernschmelze erfolgte.
Europa ist womöglich haarscharf an einem neuen Tschernobyl vorbeigeschlittert. Der Reaktor 1 des schwedischen AKW Forsmark nördlich von Stockholm war wegen eines Kurzschlusses mit anschließendem Stromausfall beinahe unkontrollierbar geworden. Gleich verschiedene Sicherheitssysteme funktionierten nicht wie vorgesehen.
"Es war ein reiner Zufall, dass es zu keiner Kernschmelze kam." Das behauptet jetzt ein Mann, der es wissen sollte. Lars-Olov Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns für deren Atomkraftwerk in Forsmark zuständig war und den in Frage stehenden Reaktor in- und auswendig kennt. "Das ist die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl", erklärte er am Mittwoch im Stockholmer Svenska Dagbladet.
Begonnen hatte die Beinahe-Katastrophe am 25. Juli kurz vor 14 Uhr mit einem durch Wartungsarbeiten an einem Stellwerk verursachten Kurzschluss, der das Atomkraftwerk auf einen Schlag vom übrigen Stromnetz trennte. Automatisch erfolgte daraufhin eine Schnellabschaltung des Reaktors 1. In einer solchen Situation sollen normalerweise vier Notgeneratoren automatisch anspringen und vor allem die Kühlpumpen mit Strom versorgen.Tatsächlich setze sich aber der Kurzschluss über die gesamte Versorgungskette fort, sodass sich auch die Batterien der Hilfsgeneratoren kurzschlossen.
Nur weil zwei der vier baugleichen Generatoren nach einiger Zeit gestartet und damit ein Teil der Notkühlung in Betrieb genommen werden konnte, gelang es, den Reaktor nach 23 Minuten wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sieben Minuten später wäre die Zerstörung des Reaktors nicht mehr aufzuhalten gewesen, sagt Höglund. Mit der Folge einer nicht mehr aufzuhaltenden Kernschmelze eineinhalb Stunden später.
Das zusätzliche Problem in Forsmark: Der Stromausfall hatte zu einem Computerblackout geführt, sodass die Bedienungsmannschaft teilweise "blind" agieren musste: Viele Messgeräte funktionierten, und so bekam das Team über den Zustand des Reaktors und die Auswirkungen seiner Eingriffe selbst keine sicheren Informationen.
Die Tatsache, dass die Sicherheitssysteme nicht funktionierten, nimmt auch die staatliche Atomkraftbehörde "Statens Kärnkraftinspektion" (SKI) sehr ernst und hat eine umfassende Untersuchung angeordnet. Ingvar Berglund, Forsmark-Sicherheitschef, findet den Konstruktionsfehler von Komponenten, über die sich ungehindert eine Kurzschlusskette fortsetzt, "nicht akzeptabel": "Ich hatte davon vorher erst einmal gehört, das war bei einem russischen Reaktor."
Laut Berglund stellte sich nach dem Vorfall heraus, dass der Herstellerfirma AEG, die die fraglichen Generatoren Anfang der Neunzigerjahre geliefert hatte, diese Konstruktionsschwäche durchaus bekannt war. AEG habe es aber nicht für notwendig gehalten, dieses Wissen weiterzugeben. Im Widerspruch dazu meldete am Mittwoch die Tageszeitung Upsala Nya Tidning, AEG habe das Forsmark-AKW informiert, nachdem es einen Zwischenfall in einem deutschen AKW gegeben hatte.
Verschiedene schwedische und finnische Reaktoren arbeiten mit den gleichen Generatoren. Berglund will nicht ausschließen, dass dies ein "weltweites" Problem sein könne. Darüber habe man mittlerweile auch die Internationale Atomenergieagentur IAEA informiert.
Sowohl der AKW-Betreiber als auch die staatliche SKI weisen die Einschätzung des Forsmark-Konstrukteurs, der Reaktor habe vor einer Kernschmelze gestanden, als "übertrieben" zurück. Bei SKI hat man den Stromausfall und seine Folgen als "ernsten Vorfall" auf Stufe 2 der siebenstufigen Ines-Skala eingestuft. Begründung hierfür: Es sei keine Radioaktivität freigesetzt worden.
Ole Reistad, Abteilungsleiter der Strahlenschutzbehörde im Nachbarand Norwegen, nimmt den Vorfall allerdings deutlich ernster als seine schwedischen Amtskollegen. Im Forsmark habe man "nahe vor einer Katastrophe" und vor dem Wegfall der letzten Sicherheitsbarriere gestanden, sagte Reistad der taz. "So etwas hätte nie passieren dürfen."