Atomkraftwerk Kosloduj: Verdacht der Korruption
Quelle: (Die Presse) 15.07.2008 | 18:48 | Von unserem Mitarbeiter FRANK STIER
Ein Atomphysiker ortet massive Sicherheitsrisiken am bulgarischen AKW und vermutet, dass minderwertige Brennstäbe zum Einsatz kamen
SOFIA. „ Mein Name ist Georgi Kotev, ich bin 43 Jahre alt und komme aus Bulgarien.“ So trocken beginnt eine vierminütige YouTube-Sequenz, mittels derer ein Beschäftigter des AKW Kosloduj seine Vorgesetzten unter schweren Korruptionsverdacht stellt. Die Beschuldigungen des Atomphysikers gegen seine Chefs erscheinen ihm selbst derart brisant, dass er zu seiner eigenen Sicherheit vor der publizistischen Anklageerhebung sein Heimatland verlassen hat. Diese Vorsichtsmaßnahme erscheint nachvollziehbar; zuletzt war erst Anfang April dieses Jahres ein Unternehmer der bulgarischen Atomwirtschaft erschossen worden.
Seit siebzehn Jahren ist Georgi Kotev in Bulgariens einzigem Atomkraftwerk für die Begutachtung der Qualität von Nuklearbrennstoffen verantwortlich. Im Jahre 2004, so berichtet er, wurden im Zuge einer umfassenden personellen und strukturellen Veränderung der Organisationsabläufe im AKW bisher gelieferte Brennstäbe mit der Bezeichnung TVSM durch neue, TVSA genannte, ersetzt. Bei diesen, so behauptet Kotev, stimmen die deklarierten Brenneigenschaften mit den tatsächlich gezeigten nicht überein. Während die deklarierte zulässige Abweichung von der Dauer des Brennprozesses drei Prozent betrage, so beliefen sich die gegenwärtig festgestellten Abweichungen auf acht bis neun Prozent. „Solche Abweichungen sind ohne Präzedenz im Funktionsablauf eines Kernkraftwerks, und die Gründe für sie müssen unverzüglich ermittelt werden.“
Außerdem konstatiert Kotev, die TVSA-Brennstäbe wiesen nicht den Verbrennungsgrad auf wie ihre Vorgänger, und dadurch bestünde ein massives Sicherheitsrisiko durch „austretendes nukleares Material“.
Aus seinen Beobachtungen schließt Georgi Kotev, dem bulgarischen Kernkraftwerk Kosloduj könnte vom russischen Lieferanten TVEL minderwertiger Brennstoff, im schlimmsten Fall gar recycletes Uran geliefert werden. „Aufgrund der Preisdifferenz zwischen neuem und recycletem Brennstoff würde dies die Realisierung eines enormen Korruptionsschemas erlauben – mit Beträgen von zig Millionen Euro pro Jahr.“ Eine solche Korruption, warnt Kotev, könne zu einem nicht dagewesenen Verlust an Berechenbarkeit der Funktionsweise der beiden aktiven Kernreaktoren von Kosloduj führen.
„Es besteht überhaupt kein Problem mit der Sicherheit des neuen Nuklearbrennstoffs“, bestreitet Sergej Zonev, Chef der bulgarischen Nuklearagentur, die Stichhaltigkeit von Kotevs Warnungen. Allerdings bestätigt er Abweichungen der deklarierten von den tatsächlichen Eigenschaften der Brennstäbe. „Doch daraus ergibt sich noch überhaupt keine Begründung für eine erhöhte Gefährdung“, beschwichtigt er.
Georgi Kotev berichtet in seiner Online-Botschaft von einer einschüchternden Atmosphäre im Werk Kosloduj. Dessen Werksleitung und das von ihr engagierte Unternehmen, das zwischen dem AKW und dem russischen Lieferanten vermittle, beanspruchten ein Wahrheitsmonopol: „Jeder, der eine abweichende Meinung vertritt, muss stillhalten“, sagt er.
Vor seiner Ausreise will Kotev erfolglos versucht haben, nationale und internationale Institutionen für seine Beobachtungen zu interessieren. Inzwischen aber hat die bulgarische Umweltorganisation Ekoglasnost den bulgarischen Generalstaatsanwalt und die Europäische Kommission in Brüssel aufgefordert, die Stichhaltigkeit von Kotevs Ausführungen zu überprüfen. Von den bulgarischen Politikern hat sich bisher keiner offiziell geäußert.
Munitionslager gesprengt
Kotevs Beschuldigungen sind bisher nicht nachgewiesen, doch mangelt es in Bulgarien nicht an Beispielen für korrupte Geschäftspraktiken in staatlichen Unternehmen. So flog Anfang Juli am Rande Sofias ein ganzes Munitionslager der Armee in die Luft. Als wahrscheinliche Ursache dafür gelten nun Wirtschaftsinteressen. Möglicherweise sollten zuvor begangene Munitionsdiebstähle vertuscht werden, vielleicht sollte aber auch nur die Räumung eines lukrativen Grundstücks beschleunigt werden.
Und erst vor wenigen Tagen wurden der Generalstaatsanwaltschaft Akten aus dem staatlichen Heizkraftwerk Maritsa-Istok 2 übergeben. In diesem Fall geht es um Unregelmäßigkeiten bei der Lagerung von Altmetallbeständen und Kohlenreserven.