Und dann war der Gipfel weg

Quelle: Süddeutsche Zeitung:Michael Frank

In den Alpen taut der Permafrost, der Kitt der Berge - doch nur wenige sehen, dass sich im Untergrund vieles bewegt.

Das Glück des Tüchtigen kann manchmal doch zu viel werden. Da sind die Landesgeologen von Tirol zum Bliggferner im Kaunertal aufgestiegen, um sich Verschiebungen in Gelände und Fels anzusehen, die dort seit Monaten Berg und Gletscher völlig neu modellieren. Man hat auch ein Fernsehteam mitgenommen, dem unerwartet dramatische Bilder in die Linse springen: Plötzlich bedrohliches Rumpeln, der Untergrund bewegt sich, Geröll und dicke Brocken purzeln und springen - auch die Geologen, die eilig Reißaus nehmen. Alles ist glimpflich abgegangen.

Das war einer der seltenen Fälle, bei dem Fachleute aus nächster Nähe eine der dramatischsten Umwälzungen in den Bergen beobachten konnten: In den Höhenlagen der Alpen taut im Gebirge der Permafrost auf, jener kältestarre Kern, der Gestein, Fels und Schutt wie Kitt zusammenhält. Die Alpen beginnen zu zerbröseln.

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Unheimliche Beharrlichkeit

Das kann sich leise, aber mit dennoch unaufhaltsamer Wucht abspielen wie am Bliggferner. Hier sind mehr als vier Millionen Kubikmeter Gestein und Eis in Bewegung, sagt Gunther Heißel, Chef der Tiroler Landesgeologie, der auf dem Gletscher selbst dabei war. Die riesige Felsmasse "fließt" gleichsam zu Tal, 20 Zentimeter pro Tag, was nicht sehr spektakulär klingt, aber den Gletscher aufreißt, ihn mit tückischen Bruchlinien durchzieht, Gräben auftut, das Gestein zermahlt, alles aus dem Halt bringt. Mit unheimlicher Beharrlichkeit geht das Bersten, Schieben und Drücken die Nordflanke der Bliggspitze hinab, von der Ferne sieht man das als braune Bahn im Weiß von Schnee und Gletscher. Keiner weiß, wo das enden wird, wenn die Erde nicht zum Stehen kommt.

Denn nur zwei Kilometer westlich davon liegt der Gepatsch-Stausee, einer der vielen Hochgebirgsspeicher, die man als Energiereservoir und Wasserrückhalteanlagen über die Alpenregion verstreut hat. Gunther Heißel sagt, dass nach menschlichem Ermessen nicht wirklich Gefahr droht. Aber der "SuperGAU" wäre, dass sich Fels und Eis vom Bligg in den See ergießen. Der würde übergehen, vielleicht würde auch der Wehrdamm bersten, mit einer Sturzflut und kaum auszudenkenden Zerstörungen als Folge. Vor Jahrzehnten hat es ein solches Unglück in den italienischen Alpen gegeben. In Tirol aber werden gerade einige Hochspeicher für neue Kraftwerke konzipiert, eines davon im oberen Rofental, einem Seitenast des Ötztales. Hier aber ist jetzt schon Gelände in Bewegung, unter dem dereinst der Stausee liegen soll. Hier, so glauben Kraftwerksgegner, werde die Katastrophe geradezu vorausgeplant, wenn einmal ganze Bergflanken in das volle Staubecken stürzen könnten.

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Bizarre Gestalt

Keine Panik, sagen die Geologen. Doch Vorzeichen für eine so unausweichliche wie dramatische Entwicklung für die Bergregionen gibt es genug: So tat sich vor gut einem Jahr ein gewaltiger Spalt an der Ostwand des berühmten Eiger auf, donnerten monatelang regelmäßig gewaltige Brocken und Steinlawinen zu Tal. Von Grindelwald aus pilgerten Touristen in Scharen zu diesem Schauspiel, ohne dessen Tragweite zu begreifen. Im Sommer brach ein ganzer Grat des Matterhorns ab, des wohl berühmtesten Berges der Alpen. Als erregendstes Szenarium ist der jüngste Vorfall in Erinnerung: Hinter Sexten in Südtirols oberem Pustertal krachte erst im Oktober eine ganze Zinne des Einserkofel ins darunterliegende Fischleintal. Amateurfilmer konnten den ungeheuren Schlag aufnehmen, bis auch ihnen weißer Staub die Sicht nahm, der danach tagelang die ganze Region vernebelte und alles zentimeterdick "zuschneite".

Professor Wilfried Haeberli von der Universität Zürich gilt derzeit als der "Papst" bei der Beobachtung der Permafrostphänomene. Brüche und Stürze sind nicht nur "normal" in den Alpen, sagt er, sie haben besonders deren vielerorts bizarre Gestalt geschaffen. Das ist am dramatischsten an den Türmen und Schluchten der Dolomiten zu studieren, zu denen der Sextener Einserkofel gehört.
Gerade das Matterhorn, so der Professor, verdankt seine charakteristische Silhouette der unentwegten "Arbeit" der Natur, indem Wind, Wetter, Wasser und andere Gewalten den Berg regelrecht "behauen" und seine Flanken abspalten. Diese Kräfte wirken langsam, aber unentwegt und deshalb hochwirksam.

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Die Tiroler bleiben gelassen

Dass aber die Alpen dennoch überhaupt noch so dastehen, wie wir sie erleben, ist dem Permafrost zu danken: Von etwa 2000 Höhenmetern aufwärts ist der Felsuntergrund der Massive bis zu einigen hundert Metern Dicke gefroren. Wie eine Plombe hält dieses Untergrundeis die Felsmassen zusammen. Und es verhindert - der wichtigste Effekt - das Eindringen von Wasser. Wasser ist nämlich, sagt Professor Haeberli, die zerstörerischste Kraft im Gebirge.

Sichtbarstes Zeichen ist das Abschmelzen der Gletscher. Eine unsichtbarere, tückischere Gefahr aber ist das An- und Auftauen der Frostkerne des Gebirges. Der gefrorene Untergrund hat den Fels bisher zusammengehalten, einmal aufgetaut, wirkt das Wasser gegenteilig: Es sprengt das Gestein. Denn ist das Eis in den Rissen, Spalten und kapillaren Fugen erst einmal verflüssigt, dann fließt Wasser nach und gefriert irgendwann auch wieder. Und wenn Wasser gefriert, dehnt es sich aus und sprengt mit immenser Gewalt jedes Material. Auf dem Gipfel des Obergurgler Schalfkogels hatte man vor zwei Jahren einen Haarriss festgestellt. Vor einem Jahr klaffte bereits ein zwei Meter breiter Schlund, jetzt muss man das Gipfelkreuz versetzen. Da werden die Gewalten drastisch sichtbar, mit denen der ständige Wechsel von Tauen und Gefrieren Flanken absprengen und ganze Massive auseinanderstemmen kann. Bislang feste Strukturen lockern sich, Stürze und Steinlawinen werden zum Alltagsgeschehen.

Wasser ist voller Dynamik. Allein schon der Druck noch so dünner, aber turmhoher Wassersäulen innerhalb der festen Materie, sagt Haeberli, kann auf Dauer Spalten verbreitern, ganze Segmente aus dem Fels brechen. Was das Verschwinden des Permafrostes auf das ganze Wassersystem im Gebirge ausübt, wie die Flüsse künftig fließen werden, wie die sich häufenden Starkregen abfließen sollen - wer weiß. Denn ewiges Eis hat bislang auch riesige Schotterflächen verkittet. Geröllfelder an den Talflanken, bislang vom Eis stabilisiert, verwandeln sich beim Auftauen in labile Kare, von denen immer mehr Schutt abfährt und Bäche und Flüsse mit immer mehr Geschiebe füllt. Denn die Bergflüsse transportieren nicht nur Wasser, sondern auch Unmassen an Geröll, dessen Menge noch ganz andere Dimensionen annehmen wird, wenn es nicht mehr vom Eis oben festgehalten wird.

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Tanz auf dem Eis-Vulkan

Haeberli, Heißel und Wasserfachleute des WWF und anderer Naturschutzorganisationen sind sich einig, dass alte Rezepte nicht mehr helfen: Die Folgen des Tauprozesses im Permafrost mit technischen Mitteln aufhalten zu wollen, wäre falsch und auch unmöglich. Ein jeder, der heute im Hochgebirge bauen will, sei es für touristische Zwecke, für die Energiegewinnung oder für andere Infrastruktur, müsse neue Berechnungen und Überlegungen anstellen, fordert Heißel. Allen voran die Überlegung, ob einem Projekt nicht durch das Schwinden der ewigen Frostkerne im Gebirge buchstäblich der Boden entzogen würde. Das Thema der Naturgefahren durch den Klimawandel erhält eine neue Dimension, die Raumplanung müsste ganze Zonen zum Tabu erklären.
Denn nicht immer geht es so glimpflich ab wie an der Wildspitze im Stubai, wo sich eineinhalb Millionen Kubikmeter Fels vom Gipfel losgerissen, unter den Daunferner geschoben und ihn um einhundert Meter angehoben haben. Niemand kam bisher zu Schaden, nicht einmal der Skibetrieb wurde groß beeinträchtigt, nur aus einer rasanten Abfahrt wurde ein Familienbuckel. Im übertragenen Sinne ein Tanz auf dem Eis-Vulkan, denn kaum einer will so recht wahrhaben, dass sich da im Untergrund Grundsätzliches bewegt.
Vor zwei Jahren erst hat eine wissenschaftliche Umfrage in den Hochtälern Tirols eine verblüffende Gelassenheit der ansässigen Bevölkerung erbracht. Wenn es den Klimawandel denn überhaupt gibt, dann lässt er uns hier oben kalt, denn wir haben ja die Gletscher, war der einhellige Tenor. Heute ist dieses Zutrauen dahin. Geologe Heißel hat Ende der Achtzigerjahre seinen Beruf aufgenommen. Damals habe er es sich als "Glücksfall" vorgestellt, Zeuge eines wirklich dramatischen Vorfalls im Gebirge zu werden. "Die Ereignisse haben mich buchstäblich eingeholt", sagt er, "sie gehören heute fast zum Alltag."

Er hält nichts von Dramatisierungen, aber auch nichts davon, die unheimlichen Vorgänge kleinzureden. Denn von den meisten dramatischen "Ereignissen", die das Schwinden des Permafrostes in den Alpen begleiten, bekommt man im menschenleeren Hinterland erst einmal gar nichts mit. So hat das Aufnahmeband einer Wetterüberwachungskamera offenbart, dass einer der Berge im Stubai plötzlich seinen Gipfel verloren hat. Wann und wie, hat niemand mitbekommen: "Er ist einfach weg."

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